Auf einsamem Posten – Einblicke aus der psychiatrischen Sprechstunde in Siem Reap
- stiftungkanthaboph
- 8. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Es gibt hier ein kleines Sprechstundenzimmer, das anders als die übrigen Klinikräume mit bunten Teppichen, Spielzeug und fantasievollen Kinderzeichnungen dekoriert ist. Es ist der Arbeitsplatz von Dr. Thida, der bisher einzigen Psychiaterin des Spitals.
In ganz Kambodscha gibt es nur etwa hundert Psychiaterinnen und Psychiater für 17 Millionen Einwohner. Rund 40 Prozent der Bevölkerung leiden an psychischen Problemen, die Suizidrate liegt weit über dem weltweiten Durchschnitt (1).
Während anderthalb Tagen übersetzte Dr. Thida für mich die Patientengespräche und erzählte mir spannende, aber auch traurige Geschichten aus ihrem Berufsalltag. Gerne schildere ich hier die wichtigsten Eindrücke meines Besuches anhand einiger Fallbeispiele.
Das Problem der Compliance
Viele Kinder kommen nur sehr vereinzelt alle paar Monate für Termine, da sich die Eltern die lange Anreise nicht immer leisten können (oder wollen). Hier spielen besonders in der ländlichen Bevölkerung Religiosität und Spiritualität eine grosse Rolle. Viele Eltern gehen mit ihren Kindern erst zu Heilern oder nutzen traditionelle Medikamente oder Therapien, beides oft zu Wucherpreisen, ehe sie sich an Ärzte wenden.
Ein 10-jähriger Junge sitzt versteift auf dem Stuhl, Augen weit offen, spricht in monotoner Stimmlage – vermutlich Drogenmissbrauch. Seine Stiefmutter ist jedoch überzeugt, dass ihm «die Seele gestohlen worden sei», da seine Mutter mit «schlechtem Karma» gestorben wäre. Sie bringt ihn deshalb, statt ins Spital, regelmässig zu einem Heiler, welcher sie nun ans Spital weiterleitete, um hier ein Medikament zu holen. Dr. Thida vermutet, dass dieser sich dadurch an der Schulmedizin bereichert.
Schwierige Eltern-Kind-Beziehungen
Hier kümmern sich oft Grosseltern oder Tanten um die Kinder mehrerer Familien. Die Eltern müssen viel arbeiten, um die Grundbedürfnisse ihres Nachwuchses zu erfüllen. Viele denken, eine gute Bildung und genügend Geld seien dabei das Wichtigste. Für die emotionale Unterstützung in schwierigen Zeiten fehlt es oft an Verständnis, Zeit oder Kraft.
Ein 12-jähriger Junge reist mit seiner Grossmutter von weit her an, da seine Leistungen in der Schule abnahmen. Der emotionslos wirkende Junge erzählt, dass sein leiblicher Vater ihn als Kleinkind tagsüber bis mitternachts in einem Zimmer einsperrte, während er arbeiten ging. Seine Mutter würde ihn erst bei sich aufnehmen, wenn er gute Noten hätte. Deshalb will der Junge Kindermönch werden, für viele Kinder aus ärmlichen Verhältnissen der einzige Weg zu einer guten Schulbildung. Auf Dr. Thidas Frage, welche drei Wünsche er hätte, wenn er eine Wunderlampe besässe, hat er nur eine einzige Antwort: «Gut in der Schule sein.»
Transgenerationales Trauma
Viele Eltern wuchsen in einem Klima von Angst und Unsicherheit auf. Dies prägt auch die nächste Generation. Traumatisierte Eltern können emotional weniger verfügbar sein. Es gibt Hinweise, dass extreme Traumata molekulare Spuren (z. B. Veränderungen in Stresshormon-Regulation) hinterlassen können, die weitergegeben werden.
Thida selbst erzählt: Als Kind hörte ich oft Dinge wie 'Iss auf, ich musste damals das Fleisch meiner Nachbarn essen, um zu überleben' oder 'Sei leise in der Nacht - wenn bei uns früher jemand laut war, kamen die Soldaten und haben die erschossen'.
Der Grenzkonflikt mit Thailand
Er hat unzählige Familien von ihrem Zuhause vertrieben, viele leben in überfüllten Flüchtlingslagern. Diese traumatische Erfahrung trifft die verletzliche Psyche von Kindern besonders hart.
Ein Teenager leidet an Verfolgungswahn. Er fühlt sich beobachtet, atmet schnell, will sich am liebsten unter dem Tisch verstecken. Er lebt aktuell in einem Flüchtlingscamp. Die Umsiedlung habe seinen Zustand getriggert.
Der fehlende Kinderschutz in Kambodscha
Der Schutz von Kindern liegt rechtlich beim Ministry of Social Affairs, Veterans and Youth Rehabilitation (MoSVY). Dieses Ministerium ist aber chronisch unterfinanziert und in der Praxis wenig durchsetzungsfähig (2).
Einer Teenagerin erlebt häusliche Gewalt und ist in kriminellen Banden verstrickt. Leider kann die Psychiaterin ihr nicht helfen, aus dieser Situation zu entkommen. Das Mädchen würde auf der Strasse landen, was in ihrem Fall noch gefährlicher wäre, als sie in ihrer Familie zu belassen.
Screen-Addiction
Das ist ein wachsendes Problem. Viele Kinder verbringen ab dem ersten Lebensjahr mehrere Stunden täglich vor dem Handy. Es werden vermehrt motorische und sprachliche Entwicklungsverzögerungen bei Kindern beobachtet. Dabei hoffen viele ärmere Familien, dass ihre Kinder durch einen hohen Social-Media-Konsum besser Englisch lernen und so einen beruflichen Vorteil hätten.

Insgesamt zeigen diese Herausforderungen die Bedeutung eines familienorientierten Ansatzes in der Therapie im Kantha Bopha-Spital. Dr. Thida versucht, in den wenigen Sprechstunden möglichst viel durch eine gute Aufklärung und gezielte Einsetzung von Medikamenten zu erreichen. Oft reicht es, den Eltern die Relevanz von guten Gesprächen mit ihren Kindern aufzuzeigen. Für eine engmaschige Einzeltherapie, wie sie oft indiziert wäre, fehlt es häufig schlicht an Zeit und Ressourcen.
Ein spannender Ansatzpunkt ist die Miteinbeziehung von Mönchen und Religiosität in Themen rund um mentale Gesundheit. So werden vermehrt Mönche dazu ausgebildet, in den Schulen Entspannungs- und Achtsamkeitstechniken zu lehren.
Einer Familie eines achtjährigen Mädchens mit einer akuten Psychose empfiehlt Thida, einen Mönch zur spirituellen Reinigung des Hauses zu organisieren. Es denkt, es werde zu Hause von verstorbenen Verwandten verfolgt. Die ganze Familie ist extrem ängstlich und religiös. Vielleicht kann der Geistliche die Eltern beruhigen und somit einen positiven Einfluss auf das Kind haben.
Es gibt im Bereich der psychischen Gesundheit im Land noch sehr viel zu tun. Rund 80 Prozent der Kinder in der Sprechstunde berichten von Suizidversuchen oder -plänen. Aktuell schult sie mittels Peer-Tutoring andere Ärztinnen und Ärzte am Spital und hofft, dass bald mehr Fachkräfte gefunden werden, die ihre Arbeit in Siem Reap unterstützen.
Ich bin wahnsinnig beeindruckt von Thidas Engagement. Sie ist eine Einzelkämpferin, die mit viel Herzblut und aufrichtigem Mitgefühl trotz der schwierigen Umstände für die Kinder da ist. Auch privat habe ich Thida als eine offene und liebenswerte Person erlebt. Ich wünsche ihr viel Erfolg und hoffe, dass bald weitere farbenfrohe Therapiezimmer das ihrige ergänzen werden.
Mit besten Grüssen aus Siem Reap
Marah
1. TPO Cambodia [Internet]. [cited 2025 Aug 30]. The Need. Available from: https://tpocambodia.org/the-need/
2. Williamson J, Gross P. DCOF-UNICEF ASSESSMENT OF “STRENGTHENING SYSTEMS TO PROTECT VULNERABLE CHILDREN AND FAMILIES IN CAMBODIA.”
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