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Erinnerungen und Narben, die bleiben

  • stiftungkanthaboph
  • vor 7 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit
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Mit einem Koffer, bis zum Rand gefüllt und nur knapp den strengen Regeln der Airline gehorchend, machte ich mich schweren Herzens auf den Weg zum Flughafen. Ein hastiger Abschied von einer Zeit, die ich so intensiv gelebt habe.


Nichts davon möchte ich vergessen: die ratternden Tuk-tuk-Fahrten, die eingefangenen Sonnenuntergänge über alten Tempeln, die Regenduschen, die Freundschaften, die sich im Stillen schlossen und stärker wurden als erwartet. Die ersten chirurgischen Knoten, die meine Hände zögerlich, dann sicherer knüpften. Aber auch die traurigen Schicksale, die mich Demut lehrten, und ebenso die kleinen, zärtlichen Erfolge, die mich tief berührten.


Mit den Bildern meiner Kamera möchte ich all das erzählen, die Geschichte eines Landes, das mir anfangs fremd erschien und mir doch mit jedem Tag näher rückte, bis es einen Platz in meinem Herzen fand.



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Mein erster Tag im Krankenhaus war voller Kontraste. Auf den Strassen winkten uns Kinder zu, lachten und gaben High-Fives, als wären sie die lebendige Musik der Stadt. Sie sind verspielt, in Scharen, und strahlen eine unbeschwerte Freude aus, die mich zugleich erstaunte und berührte. Es war verblüffend zu sehen, wie Eltern mit drei Kindern auf einem Fahrrad oder Motorrad unterwegs waren, ein Kunststück des Gleichgewichts, das hier Alltag ist. Gleichzeitig wusste ich, dass dies viele schwere Unfälle mit sich bringt. Überall schien es, als kämen auf jede erwachsene Person vier Kinder.



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Alte Menschen begegneten mir kaum, wohl ein stilles Echo der Khmer Rouge, das bis heute spürbar ist. Im Krankenhaus lernte ich, dass viele Familien weite, mühsame und teure Wege auf sich nehmen, um ihr krankes Kind behandeln zu lassen. Häufig kommen sie erst, wenn die Krankheit bereits sehr ernst ist. Später stand ich auf den Dächern der Stationen mit meiner Kamera. Vor mir flatterten Kleidungsstücke im warmen Sonnenlicht, aufgehängt von Angehörigen, die während der Behandlung hier leben. Ein provisorischer Alltag, der sich eigenartig und gleichzeitig selbstverständlich über die Zeit geformt haben muss.



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Zurück auf der Station sah ich mir die vielen Kabel aus Plastik, Monitoren und Beatmungsmasken an, die an den kleinen Patienten hingen. Während ich die Krankenakten durchblätterte, dachte ich an die fröhlichen Kinder auf der Strasse zurück, an ihr Lachen, ihre bunten Spielsachen aus Plastik, und daran, wie nah Freude und Sorge hier nebeneinander stehen. Ein Raum voller Leben, voller Widersprüche, der doch auf seltsame Weise harmonisch wirkte.



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In einer dieser Wochen, die speziell grosszügig mit Eindrücken war, durfte ich im Herzstück des Krankenhauses stehen. Der Heart Corner, eine Abteilung, auf die man besonders stolz blickt, denn hier geschieht Grosses. Dr. Ladin nahm mich unter seine Fittiche und öffnete mir die Tür zur Herzchirurgie an seinem Operationstisch. Kindern mit angeborenen Herzfehlern wird hier seit 2011 ein neues Leben geschenkt. Ein Leben, das plötzlich wieder Jahrzehnte vor sich hat, wie ein Horizont, der sich unerwartet weitet.


Während einer Pause erzählte mir Dr. Ladin seine eigene Lebensgeschichte, wie er als Sohn eines Reisbauers in die Hauptstadt Phnom Penh aufbrach, wie er bei Mönchen lebte, studierte, lernte und schliesslich seinen Weg bis zum Herzchirurgen fand. Seine Schilderungen wirkten wie Fäden, die sich unmerklich mit dem Moment verbanden, während ich später im Operationssaal seine sicheren, ruhigen Handbewegungen beim Knoten beobachtete. Zum ersten Mal sah ich ein schlagendes Herz und sah gleichzeitig, wie daran operiert wurde. Ein Gefühl, das mich übermannte, zugleich unwirklich und überwältigend.


Gegen Ende der Woche durfte ich, unter genauer Anleitung und wachsamer Aufsicht, mehr und mehr mithelfen. Ich setzte den ersten Schnitt am Brustbein. Ein unbeschreiblicher Moment, mit Persönlichkeiten wie ihm am selben Tisch zu stehen und Teil eines Augenblicks zu sein, der ein Leben verändert. Danach schloss ich sorgfältig die Wunde wieder zu.


Später am Tag lief ich, kurz nach Schichtende, noch einmal zum Bett des kleinen Patienten zurück. Nur um sicherzugehen, dass die Knoten der Drainageschläuche fest sassen. Ich fragte mich, ob er eines Tages zufrieden sein würde mit der Narbe, die wir ihm hinterliessen, und hoffte, dass ich meine Aufgabe gut erfüllt hatte. Diese Narbe wird ihn wohl ein Leben lang begleiten. Vielleicht wird er sie eines Tages mit Stolz tragen.



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Es war Dengue-Saison, und das spürte man zwischen den Regenschauern überall im Krankenhaus. Die Stationen waren überfüllt, Kinder lagen auf dem Boden, auf kleinen Teppichen, zwischen Betten, manchmal auf improvisierten Liegen. Überall waren das leise Rauschen der Beatmungsgeräte, Stimmen und das Murmeln vom Pflegepersonal, das zwischen den Patienten hin und her eilte, zu hören. Viele Kinder kamen im Schockzustand, ausgezehrt von inneren Blutungen und massivem Volumenverlust. Es sind die Folgen eines Virus, das von einer Mücke übertragen wird. Kinder mussten täglich intubiert werden, oft innerhalb von Minuten nach ihrer Aufnahme.


Ich erinnere mich, wie wir uns paranoid mit Mückenschutz einsprühten und in unseren Wohnungen Räucherstäbchen gegen Moskitos anzündeten, als könnten wir damit die Krankheit selbst auf Abstand halten. Auf der Station sah ich die erste echte Notfall-Intubation bei einem instabilen Kind, das kaum noch selbst atmete. Unter Anleitung durfte ich übernehmen, nachdem ich zuvor zugesehen und gelernt hatte. Der Pulsoximeter zeigte wieder eine normale Sauerstoffsättigung.



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Ein anderes Bild, das mir lange im Gedächtnis blieb, war eine Gruppe von Mönchen aus einer Pagode. Alle litten an demselben juckenden Ausschlag an Kopf und Händen. Es waren typische Symptome für Krätze, verursacht durch Parasiten. Sie sassen nebeneinander auf Stühlen, die Köpfe gesenkt, geduldig wartend auf medizinische Sorge. So viele kleine Mönche auf einmal in ärztlicher Behandlung zu sehen, war surreal. Es war ein seltsamer, fast stiller Moment, der die Bandbreite der Herausforderungen dieses Krankenhauses deutlich machte.



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Auf der Station lag ein Säugling, das aus Thailand aufgrund des Grenzkonflikts zurückgebracht worden war, weil seine Therapie dort abrupt endete, als die Grenzen geschlossen wurden. Jetzt lag es auf einer dünnen Matte am Boden, eingehüllt in ein Tuch. Was mich am meisten traf, war das offene Stoma, eine künstliche Öffnung im Bauch, eine Art Notumleitung des Körpers, damit überhaupt etwas funktionieren konnte, nachdem der Darm seinen ursprünglichen Weg nicht mehr nutzen konnte. In Thailand hatte man begonnen, das Problem zu behandeln, doch nun war alles unklar. Keine Berichte, keine Akten, nur diese kleine Brust, die sich unruhig hob, und der Bauch, der eine Geschichte erzählte, die niemand ganz kannte.


Medikamente, die bisher aus Thailand geliefert wurden, waren plötzlich nicht mehr verfügbar, und Engpässe mussten anderswo ausgeglichen werden. Einige Kinder kamen ohne verlässliche Vorgeschichte, weil die Kommunikation zwischen den Krankenhäusern auf beiden Seiten der bewachten Grenzen manchmal kaum möglich war. Es war einer dieser Momente, in denen sich die Improvisation des medizinischen Alltags mit der Realität der Region mischt. Grenzen, Politik und Kommunikation, die nicht dort funktionieren, wo es am wichtigsten wäre: bei einem Kind, das einfach nur hätte weiterbehandelt werden müssen.



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Am Ende meiner Zeit in Kambodscha stand ich noch einmal einen Moment still und liess die vergangenen Wochen Revue passieren. Ich danke allen, die mich begleitet, unterstützt und gelehrt haben, meinen Freundinnen und Freunden, die diesen Weg mit mir gegangen sind, dem gesamten Krankenhauspersonal, das mich geduldig in die Abläufe eingeführt und mir jeden Schritt erklärt hat, und natürlich dem Krankenhaus selbst, das so viele Leben bewahrt und verändert. Diese zwei Monate waren nicht nur lehrreich, sondern tief bewegend, geprägt von Momenten der Freude, des Staunens und auch der stillen Nachdenklichkeit.


Mit einem letzten Blick auf die staubigen Strassen von Siem Reap, die abendlichen Gerüche der Garküchen, die alten Pagoden, den ruhigen Flussufern und das leise Lachen der Kinder verabschiede ich mich von diesem besonderen Ort. Kambodscha hat mich mehr berührt, als ich je erwartet hätte, mit seiner Wärme, seiner Geschichte, seiner Verletzlichkeit und seiner unerschütterlichen Lebensfreude. Ich verlasse das Krankenhaus mit Dankbarkeit, Bewunderung und der Erinnerung an all die kleinen und grossen Geschichten, die ich hier miterleben durfte.


«Sok Sabai» – safe and happy – möge dieses kleine Wort all die Menschen begleiten, denen ich hier begegnen durfte. Bis wir uns wiedersehen.


Jan, aus Siem Reap



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