
Als ich von dieser Anstellung erfuhr, wusste ich sofort, dass ich zugreifen musste. Es war genau die Art von Erfahrung, von der andere immer mit Begeisterung erzählen. Ich hatte das Gefühl, dass sich mir eine einmalige Gelegenheit bot, zu wachsen und etwas völlig Neues zu erleben. Also bewarb ich mich – und bekam die Stelle. Doch je näher der Abreisetag rückte, desto nervöser und unsicherer wurde ich. Ohne die Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde hätte ich diesen Schritt nie gewagt.
Als ich ankam, war es ein nationaler Feiertag, und wir hatten frei. Obwohl ich eine Fremde war, nahmen Medizinstudent Luca und einige Angestellte mich mit auf einen unglaublichen Ausflug zum Kulen Mountain. So hatte ich die Chance, die Kambodschaner in einem entspannten Umfeld kennenzulernen. Bereits nach diesem ersten Tag wurde mir klar, dass ich nichts zu befürchten hatte. Die Menschen dort mögen vielleicht nicht viel besitzen, doch sie haben Gastfreundschaft, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und ein starkes Gemeinschaftsgefühl – und das im Übermass.
Diese Werte erlebte ich auch im Arbeitsumfeld: Sie waren nicht nur fokussiert und kompetent, sondern auch unglaublich teamorientiert. Sie halfen sich gegenseitig, wo immer Hilfe nötig war, und gingen jede Situation mit einer bemerkenswerten Geduld und Ruhe an.
Die Kollegen wurden schnell zu Freunden. Sie luden mich in ihre Häuser zu traditionellen Khmer-Abendessen ein, zeigten mir ihre liebsten Orte und Restaurants und nahmen mich auf Ausflüge mit, um mir ihre Kultur und ihre Heimat näherzubringen. Viele bemühten sich sogar, etwas über meine Kultur zu lernen – einige konnten am Ende sogar einfache Sätze auf Deutsch sagen.
Sie haben mir unendlich viel beigebracht. Sie waren geduldig mit mir, nahmen sich Zeit für mich und unterstützten mich. Die Worte «Step by step. Don’t worry. You can do this.» hörte ich im Operationssaal so oft, dass sie zu meinem neuen Lebensmotto wurden. Ich lernte nicht nur viel über die Chirurgie, sondern durfte bei den Operationen auch aktiv mitwirken. Dadurch gewann ich Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten und Entscheidungsfähigkeit. Ich war auf jeder Abteilung stets willkommen – was keine Selbstverständlichkeit ist. Dafür bin ich für immer dankbar.
In der Geburtshilfe wurde ich mit einer völlig neuen Herausforderung konfrontiert: Plötzlich hatte ich zwei Patienten – und einer davon war winzig klein und zerbrechlich. Ich hatte grosse Angst, etwas falsch zu machen oder dem Baby zu schaden. Ohne die Unterstützung der Ärzte, ihre Ermutigung und ihre Führung – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie nahmen meine Hände in ihre und leiteten mich – hätte ich das nie geschafft. Doch jetzt kann ich mit Vertrauen ein Baby auf die Welt bringen, ohne Angst zu haben. Bei den Kaiserschnitten durfte ich viel assistieren und mitarbeiten. Wer hätte gedacht, dass ich mich einmal so über ein schreiendes, strampelndes Baby freuen würde?
Doch es gab nicht nur schöne Momente. Es gab auch herzzerreissende, unendlich traurige Erlebnisse. Wie zum Beispiel den Fall einer Mutter, die nach einer Plazenta-Percreta eine Hysterektomie benötigte. Zwei Tage und ungefähr 40 Blutbeutel später starb sie – und hinterliess ein Neugeborenes sowie eine am Boden zerstörte Familie. Ich war bei der Operation dabei, nach der Freude über das gesunde Kind, folgte sofort eine Angst, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Sie war eine von nicht wenigen Frauen, die dieses tragische Schicksal erleiden. Dieses Erlebnis motivierte mich, Blut zu spenden. Wenn ich könnte, würde ich jede Woche Blut spenden, in der Hoffnung, dass es einer Mutter in Not helfen könnte. Doch es gab auch hoffnungsvolle Momente – etwa als eine andere Mutter, die nach einer Hysterektomie auf der Intensivstation lag, endlich extubiert wurde und mit ihrer Familie sprechen konnte.
Auf der Intensivstation nahmen sich viele Ärzte die Zeit, mir das essenzielle Management von stationären Patienten beizubringen – wertvolles Wissen, welches ich oft brauchen werde.
Nächsten Monat beginne ich meine neue Anstellung in der Gynäkologie des Spitals Bülach. Ich freue mich darauf, das Wissen und die Fähigkeiten, die ich in Kambodscha erworben habe, in meiner nächsten Position anzuwenden. Dank meiner Erfahrungen in Siem Reap gehe ich nun mit mehr Selbstvertrauen und ohne Angst in die neue Herausforderung. Und ich hoffe, dass ich dort noch viele neue Dinge lernen werde.
Wenn ich auf die letzten zwei Monate zurückblicke, weiss ich mit Sicherheit: Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Wenn es nach mir ginge, würde ich bleiben. Was dieses Krankenhaus für so viele Kinder und Mütter leistet – mit maximaler Kapazität und Kompetenz – hat mich zutiefst beeindruckt. Ich könnte nie in Worte fassen, wie wertvoll dieses Krankenhaus für die Menschen ist. Man muss es selbst gesehen und erlebt haben, um es zu verstehen.
Deshalb verabschiede ich mich schweren Herzens und danke allen, die mir diese einmalige Erfahrung ermöglicht haben – vor allem den Angestellten dieses Krankenhauses.
Mit besten Grüssen
Anett
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